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Selbstbestimmungsfähigkeit alter Menschen: Entscheidungshilfen für die KESB – BREF 2015 «Soziale Innovation»

Redaktion

Für den Inhalt der Angaben zeichnet die Projektleitung verantwortlich.

Kooperation

Dieses Projekt ist einer der fünf Gewinner der Jahresausschreibung 2015 «BREF – Brückenschläge mit Erfolg» – ein Kooperationsprogramm von Gebert Rüf Stiftung und swissuniversities. Projektpartner: KESB aus verschiedenen Regionen der Deutschschweiz; University of Liverpool, Chair of Philosophy

Projektdaten

  • Projekt-Nr: GRS-061/15 
  • Förderbeitrag: CHF 290'000 
  • Bewilligung: 05.11.2015 
  • Dauer: 02.2016 - 05.2018 
  • Handlungsfeld:  BREF – Soziale Innovationen, 2011 - 2017

Projektleitung

Projektbeschreibung

Die KESB hat die Aufgabe, für das Wohl und den Schutz von hilfebedürftigen und vulnerablen Personen zu sorgen. Mit dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wird der Selbstbestimmung der betroffenen Personen wesentlich stärker Beachtung geschenkt, als dies bislang im alten Vormundschaftsrecht der Fall war. Damit trägt der Erwachsenenschutz dem Umstand Rechnung getragen, dass bei alten Menschen in jedem Fall eine hinreichende Selbstbestimmung vorgelegen hat, die allerdings zum Zeitpunkt einer möglichen Intervention in Frage gestellt wird. Mit dem Eingriff in die individuelle Freiheit wird ein hohes ethisches Gut berührt, wodurch die Legitimationsbedürftigkeit von Interventionen durch die KESB und der ihnen zugrundeliegenden Entscheidungen steigt. Massstab für die interdisziplinär zusammengesetzte Fachbehörde ist aber nicht nur der Umgang mit dem Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbestimmung, sondern auch die Form und Qualität der Interdisziplinarität bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung.

Die Entscheidungen beziehen sich auf Problemlagen, die keine vorgefertigten Lösungen i.S. von Handlungsrezepten zulassen, sondern immer eine Abwägung von sich oft widerstreitenden Optionen erfordern. Gerahmt von gesetzlichen Vorgaben, interdisziplinärem Professionswissen, ethischen Anforderungen und ökonomischen Mitteln ergibt sich ein Ermessensspielraum, in dem alle nicht sicheren Bestandteile der Entscheidungsfindung abgewogen werden. Auf diesen Prozess nehmen drei Faktoren Einfluss: die Emotionen der handelnden Personen, die Zeit (das Wohl der betroffenen Person hat einen doppelten Zeitbezug: Gegenwart und Zukunft) und die Ungewissheit (i.S. des Nichtwissens). Da diese Dimensionen nicht über empirische und/oder rationale Verfahren zu bändigen sind und eine Letzt-Orientierung fehlt, wird die professionelle Intuition i.S. einer praktischen Vernunft zur massgeblichen Kraft des Entscheids im Ermessensspielraum. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Beschränkung des subjektiv-intuitiven Erfahrungswissens zu überschreiten ist, um die professionelle Intuition nachvollziehbar, überprüfbar und übertragbar zu machen. Durch die Verbindung dieser Elemente kann die professionelle Urteilskraft gestärkt und i.S. einer spezifischen Expertise auch gezielt geschult werden.

Das Projekt hat zum Ziel, auf dieser Grundlage Entscheidungshilfen im Erwachsenenschutz zu entwickeln, die den beteiligten Professionen sowohl Orientierung bei der Entscheidungsfindung bieten, als auch das Fällen eines Entscheides im Rahmen des Ermessensspielraums unterstützen.

Was ist das Besondere an diesem Projekt?

In dieser Form liegt noch keine Entscheidungshilfe für den Erwachsenenschutz vor. Die meisten Studien im In- und Ausland beziehen sich eher auf die Phase der Abklärung, also auf die Vorphase des Entscheids. Zudem geht es mehrheitlich um Fragen zur Kindeswohlgefährdung. Problemstellungen im Bereich des Erwachsenenschutzes werden hingegen stark vernachlässigt. Es ist das Anliegen des Projekts, nicht einfach klassische Tools und Instrumente zu entwickeln, sondern gemeinsam mit den Projektpartnern nach neuen Formen von spezifischen Entscheidungshilfen zu suchen. Dabei soll der Versuchung einer allein rationalistischen Lösung widerstanden werden, indem rationale Elemente mit Aspekten einer professionellen Intuition zu einem Modell einer praktischen Urteilskraft verbunden werden.

Stand/Resultate

Nach Projektstart ist es gelungen, weitere Projektpartner für das Projekt zu gewinnen, sodass nun sieben KESB aus den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Zürich beteiligt sind. Im Rahmen der Erhebungs- und Analysephase haben unsere Projektpartner herausfordernde Entscheidungssituationen (Beispielssequenzen) zusammengetragen, die in zwei Workshops mit ihnen diskutiert und validiert wurden. Die 59 Fallsituationen, auf die wir zurückgreifen können, zeichnen folgendes Bild: Elementare Entscheidungsherausforderungen bildeten das fehlende Wissen bezüglich verschiedener entscheidungsrelevanter Aspekte, die dem Fall zugrundeliegenden Risiken, der nicht als adäquat erscheinende Wille der Betroffenen und die professionellen Ansprüche der Behördenmitglieder. Zudem hat sich gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit Fragen der Selbstbestimmung der Klientel (Spannungsverhältnis von Selbstbestimmungsfähigkeit und Schutzbedürftigkeit der Betroffenen) für die Behördenmitglieder ein drängendes Anliegen bildet. Diesbezüglich geht es vor allem um ein fundiertes Verständnis von Selbstbestimmung, aber ebenso um eine Konkretisierung und Klärung des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Schutz.

Auf dieser Grundlage und durch eine zusätzliche Analyse von komplexen Entscheidungsprozessen in weiteren KESB wurde das Instrument "re-quest" zur Unterstützung der ethischen Entscheidungsfindung im Bereich des Erwachsenenschutzes entwickelt. Basierend auf John Rawls’ Modell des Überlegungsgleichgewichts ist es in der Lage, dem Bedürfnis der Fachpersonen der KESB nach einem Instrument, das über die inhaltliche Reflexion der Begriffe Selbstbestimmung, Schutz und Wohl eine Intervention sowohl zu begründen als auch zu legitimieren, Rechnung zu tragen. Es wurde für solche Fallsituationen entwickelt, die mithilfe von Manualen nicht befriedigend zu lösen sind und in denen keine unmittelbare Gefährdungslage besteht. Als Kriterien zur Entscheidungsfindung dienen die normativen Ankerpunkte Selbstbestimmungsfähigkeit und Schutzbedürftigkeit sowie als (letzte) Legitimationsinstanz das individuelle Wohlergehen der betroffenen Person. Der Abwägungsprozess knüpft an die Fallkonstitution an und beinhaltet ein dreigestuftes Filterverfahren, das immer reflexiv gehalten ist, die Bereitschaft zur interpretativen Auslegung verlangt und optionenreduzierend arbeitet. Der erste Filter umfasst die moralischen Anfangsurteile, der zweite Filter bezieht die vorgängig ermittelten Urteile auf relevante nicht-moralische Aspekte und der dritte Filter überprüft die wohlerwogenen Urteile mit den ethischen Grundsätzen.

Publikationen

Corinne Wohlgensinger, Marcel Meier Kressig & Mathias Lindenau (2017): «Alle Menschen sind gleich» – oder doch nicht? Menschen mit Behinderungen zwischen Selbstbestimmung und Schutz. In: Schweiz. Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 23, Nr.4, 6-12;
Mathias Lindenau & Marcel Meier Kressig (2018): "Wir gehen hin und her" – Versuch einer Operationalisierung des Überlegungsgleichgewichts am Beispiel der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in der Schweiz. (im peer review)

Medienecho

St. Galler Tagblatt, 8. Januar 2016, Online: Erfolgreiche Brückenbauerin

Links

Am Projekt beteiligte Personen

Prof. Dr. Mathias Lindenau, (Co-Projektleiter), Sozialarbeiter, Sozialwissenschaftler und Ethiker, FHS St.Gallen, Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit (ZEN-FHS) mathias.notexisting@nodomain.comlindenau@fhsg.notexisting@nodomain.comch
Prof. Dr. Thomas Schramme, Philosoph und Ethiker, Chair of Philosophy, University of Liverpool
Prof. lic.iur. Christoph Häfeli, Jurist und Sozialarbeiter

Letzte Aktualisierung dieser Projektdarstellung  16.07.2018