Projektbeschreibung
Auch in der Schweiz zeigt sich eine Problematik moderner Arbeitsgesellschaften: Für einen wachsenden Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung wird es aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels zunehmend schwierig, eine dauerhafte Anstellung im regulären Arbeitsmarkt zu finden bzw. zu halten. Langzeitarbeitslosigkeit ist die Folge. Sozialfirmen gewinnen in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung. Sie bieten eine Vielzahl alternativer marktorientierter Beschäftigungsmöglichkeiten und tragen damit zur gesellschaftlichen Wertschöpfung bei.
Das Projekt soll den Organisationstypus «Sozialfirma» in der Schweiz erstmals systematisch erfassen, analysieren und beschreiben. Besonders interessieren dabei dessen Innovationspotenzial und die dafür notwendigen Bedingungen. Das Projekt will einen grundlegenden Beitrag zur betriebs und volkswirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Weiterentwicklung des noch jungen Beschäftigungszweiges leisten. In Zusammenarbeit mit Betriebsverantwortlichen, Leistungsfinanzierern, Regulatoren und weiteren Stakeholdern werden zudem Grundlagen erarbeitet, um das bisher v.a. organisch gewachsene System kohärenter und effizienter zu gestalten sowie das heterogene Angebot besser zu koordinieren.
Drei Forschungsfragen stehen im Zentrum:
- Welche gesellschaftliche Wirkung (Impact) stiften die identifizierten Sozialfirmen aus der Sicht der Stakeholder?
- Welche betriebswirtschaftlichen Prämissen müssen eingehalten werden, damit Sozialfirmen ihr Innovationspotenzial sowohl bedarfsgerecht als auch effizient entfalten können?
- Welche gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen sind für eine nachhaltige Entwicklung der schweizerischen Sozialfirmenlandschaft von zentraler Bedeutung?
Was ist das Besondere an diesem Projekt?
Das Projekt zeichnet sich durch einen interdisziplinären, fachhochschul und kulturübergreifenden Fokus aus, der sowohl betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche wie gesellschaftliche Aspekte untersucht. Erstmals soll schweizweit eine umfassende Bestandaufnahme erfolgen und der unterschiedlichen Entwicklung in den verschiedenen Sprachregionen Rechnung getragen werden. So werden diverse Instrumente entwickelt und getestet, die eine umfassende und multiperspektivische Wirkungsmessung ermöglichen und Innovationspotential im Umgang mit Langzeitarbeitslosigkeit aufzeigen sollen. Die Forschungsergebnisse dienen dazu, die politisch administrative Akteure in diesem Bereich zu unterstützen, die Rahmenbedingungen effizienter zu gestalten.
Stand/Resultate
Die erste Forschungsphase zur Erfassung der schweizerischen Arbeitsintegrationslandschaft und Identifizierung von unternehmerisch operierenden Sozialfirmen mittels einer breit angelegten Befragung wurde 2013 durchgeführt und 2014 abgeschlossen. An der webgestützten Befragung nahmen gesamtschweizerisch 700 Organisationen teil (Rücklaufquote gut 60%). Rund 300 Organisationen wurden als «Sozialfirmen» identifiziert, d.h. sie bieten Arbeitsplätze für Erwerbslose innerhalb des Betriebes an und erzielen Erlöse aus dem Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen. Hochrechnungen aus der Bestandsaufnahme zeigen, dass in der Schweiz ca. 500 Sozialfirmen für rund 53'000 Klientinnen und Klienten tätig sind und ca. 12'000 Mitarbeitende beschäftigen. Etwa 60% der Organisationen wurden in den 1990er-Jahren oder später gegründet. Die häufigsten Rechtsformen sind typische Non-Profit-Rechtsformen (68% Vereine oder Stiftungen). Die Sozialfirmen sind in ganz unterschiedlichen Wirtschaftssektoren tätig, mehrheitlich in Industrie, Logistik, Gastronomie und Handel/Verkauf. Sie bieten eine Vielzahl an Integrationsdienstleistungen (z.B. Coaching, Beratung, Stellenvermittlung) für Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung, für bei der Arbeitslosenversicherung versicherte Personen sowie für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger an.
Im Sommer und Herbst 2014 wurden über 20 unternehmerisch geführte Organisationen sowohl auf der Basis von Dokumenten als auch über Interviews vor Ort mit Blick auf die Organisations- und Führungsstruktur, Finanzierung sowie Leistungsangebot und Stakeholder detaillierter untersucht. Die Auswertungen aus dieser Phase wurden Anfang 2015 abgeschlossen.
Folgende Schlüsse können aus den Ergebnissen gezogen werden:
1. Schweizweit werden Sozialfirmen erst seit 2012 einheitlich untersucht. Das heisst, dass erst jetzt spezifische Grundlagen erarbeitet werden, um zu verstehen, wie Sozialfirmen langfristig eine arbeitsintegrative Wirkung nachweisen können. Derzeitig kann festgehalten werden, dass Sozialfirmen einen Beitrag zur beruflichen Integration im Wesentlichen durch zwei Zielsetzungen leisten: einerseits durch die soziale Integration in eine Sozialfirma mittels Förderung der individuellen Fähigkeiten und persönlicher Wertschätzung, andererseits durch die berufliche Integration in den Arbeitsmarkt. Wichtig dabei ist, die soziale und die berufliche Reintegration als gleichwertig aufzufassen. Denn die soziale Integration in ein marktnahes Arbeitsumfeld mit qualitativen und terminlichen Anforderungen ist eine Voraussetzung für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt.
2. In Bezug auf eine gelungene berufliche Integration zeigt es sich, dass die gängigen Erfolgsfaktoren von Marktunternehmen (einseitige Orientierung am monetären Erfolg) für eine Sozialfirma mit ihrer hybriden Zielsetzung (berufliche Integration mit unternehmerischen Mitteln) nicht geeignet sind. Aus diesem Grund mussten spezifische Erfolgsfaktoren aus unterschiedlichen Stakeholder-Perspektiven identifiziert werden, um die komplexe Wirkungsweise einer Sozialfirma im Hinblick auf die berufliche Integration verstehen zu können: Erst auf dieser Grundlage kann jede einzelne Sozialfirma künftig selbst beurteilen, ob sie arbeitsintegrativ wirkt und prekäre Lebenssituationen zu vermeiden hilft.
Wesentliche Erfolgsfaktoren von Sozialfirmen für die berufliche Integration sind:
- Ein klares Profil: Je klarer eine Sozialfirma ihr Profil anhand ihres integrationsbezogenes Geschäftsprozesses (professionelle Haltung, Einführungsangebote in den Arbeitsprozesse, zusätzliche Begleitprozesse für Weiterqualifizierung) und ihres unternehmensbezogenen Geschäftsprozesses (Arbeitsprozess, Arbeitsmarktnähe, Leistungsanforderungen, Art der Produkte, Dienstleistungen) beschreiben kann, desto besser lassen sich klare und flexible Leistungsvereinbarungen mit dem jeweiligen Sozialwerk aushandeln.
- Klare und flexible Leistungsvereinbarung: Je klarer und flexibler die Leistungsvereinbarung ist, umso klarer kann die Sozialfirma eigene Zielvereinbarungen mit den Klienten, Klientinnen intern aushandeln.
- Matching: Sozialfirmen können dann zur sozialen und beruflichen Integration einer Person beitragen, wenn sie die Ausgangslage und das Leistungspotenzial im Einzelfall genau erfassen. Auf der Grundlage dieser Erhebung können Sozialfirmen dann in Produktion sowie Begleitungsprozessen geeignete und individuell passende Möglichkeiten bieten, um die beruflichen und persönlichen Kompetenzen passend zur individuellen Ausgangslage zu entwickeln.
- Vernetzung mit Wirtschaftspartnern: Berufliche Integration durch Sozialfirmen gelingt umso besser, je intensiver sie mit Marktunternehmen in Verbindung stehen und sich austauschen. Diese Form der Vernetzung kann durch informelle Zusammenarbeit oder im Rahmen formalisierter Kooperationen, zum Beispiel in Tripartiten Kommissionen, erfolgen. Ohne die erfolgreiche Vernetzung mit Marktunternehmen müssen sich Sozialfirmen, wie im ersten Fazit erwähnt, auf die soziale Integration beschränken.
3. Unternehmensbezogene und klientenbezogene Erfolgsfaktoren bedingen einander, um eine berufsintegrierende Wirkung erzielen zu können. Es gilt diesbezüglich jedoch eine Grenze zu berücksichtigen. Denn es gibt bislang keine spezifischen Managementinstrumente für hybride Unternehmensformen, wie sie Sozialfirmen darstellen, was sie in ein Dilemma bringt. Sich an rein betriebswirtschaftlichen Instrumenten zu orientieren, gewährleistet zwar aus unternehmerischer Sicht die Existenz einer Sozialfirma. Häufig wird dabei aber auf stark vereinfachende, eindimensionale Kennzahlen abgestellt, beispielsweise auf Integration in den Arbeitsmarkt oder auf Rentabilitätskennzahlen (zum Beispiel Umsatzkennzahlen und -margen). Diese Kennzahlen geben aber die Wirklichkeit der USBI nur unzureichend wieder. Um die soziale Zielsetzung einer Sozialfirma zu erreichen, ist eine systematische Standortbestimmung zum Nachweis von Wirkungen eines wertschätzenden Umgangs mit Klientinnen und Klienten oder von Leistungen zur Förderung von soziokulturellen Fertigkeiten (zum Beispiel Teamfähigkeit) nötig. Kaum vorhanden sind hingegen Instrumente, die betriebswirtschaftliche Informationen mit Informationen zur sozialen Wirkung verknüpfen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung wurde auf die INSOCH Studie aufmerksam und finanzierte, aufbauend auf den Ergebnissen der INSOCH Studie, zwei zusätzliche Forschungsprojekte bzw. -berichte (Ferrari et al., 2016; Adam et al., 2016). Zudem ermöglichten die Resultate eine Mitgliedschaft im internationalen Forschungsnetzwerk International Comparative Social Enterprise Models (ICSEM;
International Research Network) zur Erforschung von Sozialunternehmen in unterschiedlichen nationalen Kontexten. Im Rahmen dieser Mitgliedschaft wurde der jeweilige Forschungsfortschritt des INSOCH Projekts an internationalen Konferenzen in Belgien (Adam et al., 2014) und Stockholm (Avilés et al., 2016) präsentiert und ein Working Paper verfasst (Adam et al., 2015).
Die veröffentlichten Resultate führten im Weiteren zu Anfragen zur Weiterführung der Sozialfirmenforschung in der Schweiz. Es kristallisierten sich zwei Anfrageschwerpunkte heraus: Eine Gruppe von Anfragen repräsentierte die Sicht der Praktiker, Praktikerinnen (Verantwortliche in Sozialfirmen und Vertretende von Dachverbänden). Die Anfragen brachten das Interesse an einer angewandten Forschung zur Weiterentwicklung von entsprechendem Managementinstrumentarium zum Ausdruck, um der Hybridität von Sozialfirmen aus einer Management-Perspektive besser gerecht werden zu können. Die andere Gruppe von Anfragen betraf das akademische Forschungsinteresse zur Evaluation der Wirkungen bei Personen, die in Sozialfirmen tätig waren.
Publikationen
Ein Auswahl der wichtigsten Publikationen:
Domenico Ferrari, Stefan Adam, Jeremias Amstutz, Gregorio Avilés, Luca Crivelli, Spartaco Greppi, Andrea Lucchini, Davide Pozzi, Daniela Schmitz, Bernadette Wüthrich, Daniel Zöbeli «Sozialfirmen in der Schweiz», Grundlagen zur Beantwortung des Postulats Carobbio Guscetti «Rolle der Sozialfirmen» (13.3079), Forschunsbericht Nr. 9/16, BSV, Bern, Oktober 2016:
Deutsch;
Französisch;
Italiensich;
Zöbeli, Daniel / Schmitz, Daniela
Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Avilés, Gregorio/Cavedon, Enrico/Crivelli, Luca/Ferrari, Domenico/Gafner, Anja/Greppi, Spartaco/Lucchini, Andrea/Pozzi, Davide/Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Zöbeli, Daniel (2016).
Explorative Studie zu den Erfolgsfaktoren der Unternehmen der sozialen und beruflichen Integration, Beiträge zur sozialen Sicherheit, Nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut, Forschungsbericht Nr. 4/16, BSV, Bern;
Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Avilés, Gregorio/Caimi, Massimo/Crivelli, Luca/Ferrari, Domenico/Pozzi, Davide/Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Zöbeli, Daniel (2015). «Social Enterprise in Switzerland: The Field of Work Integration», ICSEM Working Papers, No. 19, Liege/Belgium;
Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Wüthrich, Bernadette (2014). Die Sozialfirma als Grundstein sozialer Innovation in der Schweiz. In: Soziale Innovation, Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz;
Avilés, Gregorio/Ferrari, Domenico (2014). «L’entreprise sociale en Suisse: définitions, enjeux et un essai de classification», Revue Suisse de Pédagogie Spécialisée, no. 4, pp. 42–48;
Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Avilés, Gregorio/Caimi, Massimo/Crivelli, Luca/Ferrari, Domenico/Pozzi, Davide/Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Zöbeli, Daniel (2014). «Work Integration Social Enterprise in Switzerland: Results from an Empirical Survey». Western ICSEM Symposium. La Roche-en-Ardenne, October 8–10;
Avilés, Gregorio/Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Cavedon, Enrico/Crivelli, Luca/Ferrari, Domenico/Gafner, Anja/Greppi, Spartaco/Lucchini, Andrea/Pozzi, Davide/Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Zöbeli, Daniel (2016). «Social Enterprise in Switzerland: The Field of Work Integration». ISTR's 12th International Conference, Stockholm, June 27–28;
Ferrari, Domenico/Adam, Stefan/Amstutz, Jeremias/Avilés, Gregorio/Crivelli, Luca/Greppi, Spartaco/Lucchini, Andrea/Pozzi, Davide/Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Zöbeli, Daniel (2016). «Sozialfirmen in der Schweiz. Grundlagen zur Beantwortung des Postulats Carobbio Guscetti Rolle der Sozialfirmen», Bundesamt für Sozialversicherungen, Bern. Im Erscheinen;
Schmitz, Daniela/Ferrari, Domenico (2015). «Lohnmodelle und Finanzierungsquellen von Schweizer Sozialfirmen», Panorama, Nr. 4/2015, S. 30–31;
Schmitz, Daniela/Ferrari, Domenico (2015). «Modèles de salaires et sources de financement d’entreprises sociales», Panorama, Nr. 4/2015, pp. 26–27;
Schmitz, Daniela/Wüthrich, Bernadette/Amstutz, Jeremias (2014). Im Spannungsfeld von sozialen und ökonomischen Zielen. In: Panorama. Fachzeitschrift für Berufsberatung, Berufsbildung, Arbeitsmarkt. (3). S. 31.
Medienecho
Medienmitteilung
«Sozialfirmen leisten einen wichtigen Beitrag zur sozialen und beruflichen Integration, September 2016:
Artikel in diversen Tageszeitungen, u.a.:
Avilés, Gregorio (2016). «Sulle imprese sociali la Svizzera è in ritardo», in Corriere del Ticino, 11 giugno, p. 31;
Crivelli, Luca/Adam, Stefan/Schmitz, Daniela (2014). «Sozialfirmen in einem Spannungsfeld», Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 19. November, S. 28.
Links
Am Projekt beteiligte Personen
Prof. Dr. Luca Crivelli, Projektleiter, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Prof. Stefan M. Adam, Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement HSA FHNW
Jeremias Amstutz, Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement HSA FHNW
Gregorio Avilés, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Massimo Caimi, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Enrico Cavedon, Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement HSA FHNW
Domenico FerrariAnja Gafner||
anja.notexisting@nodomain.comgafner@supsi.notexisting@nodomain.comch, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI,
Spartaco Greppi, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Andrea Lucchini, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Davide Pozzi, Dipartimento economia aziendale, sanità e sociale SUPSI
Daniela Schmitz, Institut Management und Innovation, Fernfachhochschule Schweiz FFHS
Bernadette Wüthrich, Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement HSA FHNW
Prof. Dr. Daniel Zöbeli, Institut Management und Innovation, Fernfachhochschule Schweiz FFHS
Letzte Aktualisierung dieser Projektdarstellung 26.11.2020