Projektbeschreibung
Wo spielt Literatur? Diese vermeintlich simple Frage eröffnet den Zugang zu einem erst in Ansätzen etablierten Forschungsgebiet, das sich aus einem Zusammenspiel von Literaturwissenschaft und Kartographie ergibt und sich unter dem Stichwort „Literaturgeographie“ resümieren lässt.
Jede literarische Handlung ist irgendwo lokalisiert, wobei die Skala von gänzlich imaginären bis hin zu realistisch gezeichneten Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswert reicht. Literatur weist eine spezifische Geographie auf: Schau- und Herzstück des Projekts sind deshalb Musterkapitel eines digitalen, interaktiven literarischen Atlas Europas, der die Räume der Fiktion sichtbar macht. Im Zentrum stehen dabei die vielfältigen Wechselwirkungen von realer und imaginärer Geographie, die im Rahmen dreier Modellstudien vorgeführt werden: an einer spektakulären Gebirgsregion (Vierwaldstättersee/Gotthard), an einem Küsten- und Grenzgebiet (Nordfriesland/Dithmarschen) und an einer Metropole (Prag). Um diese drei Gebiete vergleichend untersuchen zu können, wird eine literaturgeographische Datenbank entwickelt - ein neuartiges Instrument der vergleichenden, kartographisch unterstützten Literaturgeschichtsschreibung.
Verankert ist das interdisziplinäre und institutionenübergreifende Projekt an drei Standorten: an der ETH Zürich, der Georg-August-Universität Göttingen und der Karls-Universität Prag.
Was ist das Besondere an diesem Projekt?
Die Gebert Rüf Stiftung finanziert während einer Laufzeit von drei Jahren ein interdisziplinäres Pilotprojekt: Noch existiert kein Forschungsvorhaben - weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene -, das die Möglichkeiten, die sich aus einer methodischen Verbindung von Literaturwissenschaft und Geographie ergeben, vollumfänglich ausschöpft. Und noch fehlt ein Instrumentarium, um Räume der Fiktion präzise zu kartographieren und miteinander zu vergleichen. Dabei ist der „Literarische Atlas Europas“ von Anfang an auf Vernetzbarkeit auf europäischer Ebene angelegt: Mit der literaturgeographischen Datenbank und den Methoden kartographischer Visualisierung werden Instrumente entwickelt, die der vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung inhaltlich neue Perspektiven und organisatorisch neue Dimensionen eröffnen (Kooperation von Instituten).
Das literarische Erbe Europas kann methodisch auf der Höhe der Zeit verzeichnet und damit zugänglich, vermittelbar und tradierbar gemacht werden.
Stand/Resultate
Das zehnköpfige, interdisziplinäre Literaturatlas-Team arbeitete parallel in drei Projektbereichen, die als Säulen eines literarischen Atlas Europas (Prototyp) zu sehen sind:
1. Textsammlung und -textinterpretation gemäss literaturgeographischen Kriterien
Die Textsammlungen für die drei Modellregionen sind in Excel-Tabellen organisiert. Stand bei Projektabschluss: 1000 Texte für die Modellregion Prag, 160 Texte für Vierwaldstättersee/Gotthard; 140 Texte für Nordfriesland/Dithmarschen. Eine Auswahl dieser bibliographisch erfassten Texte (rund 140) ist bearbeitet und interpretiert worden, die Analysen sind via online-Eingabeformular in einer Datenbank gespeichert (siehe Punkt 2).
2. Programmierung von Eingabeformular und Datenbank; Pflege/Validierung der Daten
Die Textlektüren und -interpretationen müssen formalisiert werden, wozu speziell zu diesem Zweck entwickelte literaturgeographische Begriffe und Kategorien dienen. In einem darauf basierenden Online-Eingabeformular, das den Literaturwissenschaftlern eine intuitiv-geführte Dateneingabe ermöglicht, wurden die Handlungsräume direkt auf Karten skizziert und thematisch beschrieben bzw. mit Attributen versehen (für jeden bearbeiteten Text sind rund 50 Kriterien/Attribute der Schauplatzinterpretation verzeichnet worden). Aus den extrahierten Daten entsteht so allmählich ein raumbezogenes Informationssystem für Literatur, das eine thematische und räumliche Analyse der Daten ermöglicht.
3. Entwicklung von Visualisierungsmodellen und graphischen Symbolen für literarische Schauplätze und Handlungszonen
Literarische Räume funktionieren - auch in ihrem allfälligen Bezug zur realen Geographie - nach eigenen Gesetzen. Oft genug sind sie nur vage lokalisierbar oder auf der Grenze zwischen realem und imaginärem Raum angesiedelt. Unter dieser Prämisse sind neue, adäquate Visualisierungsmodelle sowohl für einzelne Texte wie auch für grosse Textgruppen (hinsichtlich statistischer Abfragen) entwickelt worden. Mit diesen Bausteinen kann die spezifische "Geographie der Literatur" sichtbar gemacht werden.
In der letzten Projektphase (ab 01.01.2009) sind die drei Bereiche - Textinterpretationen, Datenbank und Visualisierungen - erfolgreich so miteinander verknüpft worden, dass Abfragen an das System gerichtet werden können, z. B. nach der literarischen Geographie eines Autors, einer Epoche, eines Genres. Die jeweilige Antwort erscheint als automatisch generierte Karte, die jedoch beim momentanen Stand der Technik von den Kartographen/Kartographinnen noch manuell nachbearbeitet werden muss. Die entstehenden Karten sind wiederum nur als Zwischenresultate für die nun einsetzenden Kommentierungen und Kontextualisierungen der Literaturhistoriker und -historikerinnen zu verstehen.
Eingabeformular und Datenbank stehen interessierten Forschenden oder Forschungsgruppen (auf Einladung) für Testeingaben zur Verfügung. Dokumentiert ist das gesamte Forschungsprojekt in einem illustrierten Kommentarband mit ausgewählten Karten und Interpretationen. Ergänzend dazu ist ein animiertes Szenario (online-Demoversion) erstellt worden, das Funktionen und Anwendungsbeispiele des literarischen Atlas Europas vorführt (siehe „Links“).
Publikationen
Piatti, B.: „Das Hotel von Eduard und Florence (...) gibt es nicht.“ Von den Möglichkeiten der Literatur, unsichtbare Schauplätze zu schaffen. In: Hermeneutische Blätter H. 1/2 (2007) Sondernummer »Unsichtbar«, S. 250-260.
Piatti, B.: „Ein literarischer Atlas Europas - die Geographie der Literatur sichtbar machen“. In: Geosciences ACTUEL 1 (2008), S. 17-20.
Piatti, B.: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein 2008 (2. Auflage: 2009).
Piatti, B.; Reuschel, A.-K.; Bär, H. R.; Hurni, L.: „Die Entstehung einer literarischen Landschaft sichtbar machen. Interaktive Karten als Instrumente der Literaturgeschichte“. In: Die Karten und die historische Kartographie in der Schweiz. Von der Darstellung der Macht zur Macht der Darstellung. Zürich: Chronos (im Druck).
Piatti, B.; Reuschel, A.-K.; Bär, H. R.; Hurni, L.: „Die Geographie der Fiktion - Das Projekt ,Ein literarischer Atlas Europas,“. In: Kartographische Nachrichten 06/2008, S. 287-294.
Piatti, B.; Reuschel, A.-K.; Bär, H. R.; Cartwright, W.; Hurni, L.: „Mapping Literature. Towards a Geography of Fiction“. In: Cartwright, W. et al. (ed): Art & Cartography, Wiesbaden: Springer S. 177-192.
Piatti, B.: „Auf dem Weg zu einem literaturgeographischen System. Mit einigen Bemerkungen zu Prag als ville-mirage im Rahmen eines ,Literarischen Atlas Europas,“. In: Recherches Germaniques 2009, Spezialausgabe zu »Villes-Mirages« in der Literatur (im Druck).
Piatti, B.: „Mit Karten lesen. Plädoyer für eine visualisierte Geographie der Literatur“. In: „Reihe Interpretation Interdisziplinär“. Würzburg: Köngshausen & Neumann (im Druck).
Piatti, B., Hurni, L.: „Mapping the Ontologically Unreal – Counterfactual Spaces in Literature and Cartography.“ In: The Cartographic Journal (special issue: Art & Cartography) 46/2009 (im Druck)
Piatti, B., Reuschel, A.-K.: „Literary Geography – or how Cartographers open up a New Dimension for Literary Studies“. In: Proceedings of the 24th International Cartographic Conference, Santiago de Chile (CD-ROM)
Reuschel, A.-K., Piatti, B; Hurni, L.: „Mapping Literature. The Prototype of ,A Literary Atlas of Europe,“. In: Proceedings of the 24th International Cartographic Conference, Santiago de Chile (CD-ROM)
Medienecho
„Wo Tell spielt, wächst kein Vers mehr“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Wissenschaft), 30. März 2008
„Die Literatur wandert herum, und wir können ihr folgen“, Basler Zeitung (Kulturmagazin), 3. September 2008
„Ein Bild des literarischen Raumes“, Der Bund, 6. November 2008
„Wo Tell spielt, wächst kein Vers“, SonntagsZeitung (Wissen), 16. November 2008
„Raumlektüren“, Neue Zürcher Zeitung, 23. Januar 2009
„Reise zu den Hot Spots der Literatur“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Februar 2009
„Die Landkarte der Erfindung“, Berner Zeitung, 14. März 2009
„Literarisches Wandern – von virtuellen Sphären in realen Räumen“; The Title, Nr. 10-11/2009 (
http://www.the-title.com/)
Links
Am Projekt beteiligte Personen
Am Projekt beteiligte Institute/Lehrstühle:
ETH Zürich: Prof. Dr. Lorenz Hurni, Institut für Kartografie, HIL G 24, Wolfgang-Pauli-Str. 15, CH-8093 Zürich, Tel. ++41-44 633 30 33,
hurni@karto.notexisting@nodomain.combaug.notexisting@nodomain.comethz.notexisting@nodomain.comchUniversität Göttingen: Prof. Dr. Heinrich Detering, Seminar für Deutsche Philologie, Käte-Hamburger-Weg 3, D-37073 Göttingen, Tel. ++49 551 39 12 450,
detering@phil.notexisting@nodomain.comuni-goettingen.notexisting@nodomain.comdeUniversität Prag: Prof. Dr. Milan Tvrdik, Institut für Germanische Studien, Nam. Jana Palacha 4, CZ-120 00 Praha 1, Tel. ++420 221 619 244,
Milan.notexisting@nodomain.comTvrdik@ff.notexisting@nodomain.comcuni.notexisting@nodomain.comcz
Letzte Aktualisierung dieser Projektdarstellung 17.10.2018